8. November 2019
Zwei nachhaltige Geschichtsstunden
Horst Selbiger, Überlebender des Holocaust, schilderte schonungslos sein Erleben der Novemberpogrome 1938
Kurz vor Beginn der Veranstaltung überraschte uns Horst Selbiger mit dem Vorschlag, nicht die angekündigte Lesung mit Auszügen aus seinem Buch „Verfemt, verfolgt, verraten” vorzunehmen, sondern wegen des bevorstehenden Jahrestages der Reichspogromnacht sich auf dieses Thema zu konzentrieren.
Dass diese inhaltliche Änderung richtig war, zeigte sich sehr bald.
Schon nach kurzer Zeit waren die mehr als einhundert Anwesenden von den Schilderungen des Überlebenden der Schoa in den Bann gezogen.
Sie erlebten die systematische Ausgrenzung des jüdischen Schülers in der Neuköllner Schule in der Donaustraße mit, die Schikanen der Mitschüler und der Lehrer und hörten das Knirschen der Glasscherben der eingeschlagenen Schaufensterscheiben unter den Sohlen des Kindes auf dem Schulweg am Morgen des 10. Novembers 1938.
Sie sahen angetrunkene SA-Männer Jüdinnen und Juden verprügeln und die Beifall klatschenden Bürgerinnen und Bürger, die sich anschließend noch an der Plünderung der jüdischen Geschäfte beteiligten.
Aber sie hörten auch die Rufe der mit jüdischen Männern verheirateten „arischen” Frauen in der Rosenstraße, die im Februar und März 1943 erfolgreich für die Freilassung ihrer inhaftierten und zur Deportation vorgesehenen Männer und Söhne demonstrierten.
Zu denen gehörte auch der junge Zwangsarbeiter Horst Selbiger, von den Nazis als „Geltungsjude” kategorisiert.
Nachvollziehbar schilderte er, wieso diese Widerstandsaktion aufgrund der veränderten Kriegslage und der aufkommenden Kriegsmüdigkeit erfolgreich sein konnte.
Waren die Novemberpogrome das Resultat eines Zusammenspiels von Massenloyalität mit einer verbrecherischen Diktatur, mit wütendem Rassismus und barbarischem Antisemitismus der deutschen Gesellschaft, so drohte durch die zunehmend spürbaren Auswirkungen des Krieges auf die Bevölkerung diese Loyalität brüchig zu werden.
Schließlich waren die Zuhörer*innen dabei, als der 17jährige Horst Selbiger den Sieg über den Faschismus erlebte, die Rückkehr führender nationalsozialistischer Funktionäre in hohe Positionen der bundesdeutschen Gesellschaft beobachten musste, in die DDR übersiedelte und sich dort in den ersten Jahren energiegeladen an dem Aufbau eines sozialistischen Staates beteiligte.
Doch als 1953 kritische Stimmen mundtot gemacht wurden und Selbiger aus der SED ausgeschlossen wurde, wandelte sich seine positive Einstellung.
Schließlich nutzte er als Journalist eine Dienstreise zum Auschwitz-Prozess in Frankfurt 1964 zur Flucht in den Westen.
Auch hier hätten die Anwesenden an seinem Kampf mit den ehemaligen Nazi-Juristen in der bundesdeutschen Justiz für seine Anerkennung als politisch und rassisch Verfolgter und die Anerkennung seiner Verfolgungsschäden teilhaben können.
Doch die Zeit reichte nicht, um auch dieses Kapitel aus dem Leben von Horst Selbiger genauer zu schildern und zu diskutieren.
Zum Abschluss verabschiedeten die Teilnehmer*innen einstimmig einen
Brief an die Jüdische Gemeinde zu Berlin, in dem sie die Angriffe auf Jüdinnen und Juden verurteilen und sich mit den Angegriffenen solidarisieren.
Die Anwohner*inneninitiative
Hufeisern gegen Rechts dankt der Britzer Gemeinde der Berliner Stadtmission, dass sie uns den Raum für diese Veranstaltung zur Verfügung gestellt hat.
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